Bisingen – Zeitzeugenberichte – Ein ehemaliger Häftling

Knapp dem Tod entgangen
Otto Gunsberger, ungarischer Jude, wurde im April 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. Acht Monate später kam er nach Buchenwald und von dort Anfang März 1945 nach Bisingen. In seiner Autobiographie „Choice of Profession“ beschreibt Gunsberger seine Erinnerungen an das KZ Bisingen.

Otto Gunsberger, 1998 in Bisingen – Gemeinde Bisingen

Krank und am Ende seiner Kräfte kam er im Lager an. Als er am nächsten Morgen zur Arbeit ins Ölschieferwerk musste, war er so geschwächt, dass er nicht einmal das leichteste Werkzeug anheben konnte. Er kroch auf einen Hügel und legte sich dort in die Sonne. Als Neuankömmling wurde er nicht sofort vermisst. Schließlich entdeckte ihn doch jemand.

„Hinter mir hörte ich ein Geräusch, als ob sich jemand oben auf dem Hügel zwischen den Bäumen bewegte. Ich veränderte meine Stellung nicht, drehte nur den Kopf und sah einen jungen, kräftig gebauten großen Wachmann, der aus dem Wald kam. Er hatte einen großen deutschen Schäferhund an der Leine. Er brauchte nur noch ein paar Sekunden, um den in der Sonne bratenden schwänzenden Gefangenen im Gras zu finden. Das war’s. Kein Ausweg aus dieser Lage. Es war nur eine Frage von Minuten, bis mich der Wachmann töten würde. Ich könnte höchstens versuchen, die Art, wie er mich töten würde, zu beeinflussen. Der Hund war darauf dressiert, Gefangene anzugreifen. Wenn ich aufstand und versuchte wegzugehen – rennen konnte ich nicht -würde der Hund von der Leine gelassen und mich in wenigen Minuten in Stücke reißen. (…)

Es wäre eine saubere Sache, wenn der SS-Mann die Peitsche aus dem Gürtel genommen und mich geschlagen hätte. In meinem Zustand wäre ich nach zwei oder drei Hieben bewusstlos geworden, und ein paar Tritte gegen Kopf und Körper hätten mein Leben mit weniger Schmerzen beendet. Ich zog diesen Tod vor. Deshalb bewegte ich mich nicht. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Wachmann verblüfft war. Sonst versuchte der Gefangene immer davonzulaufen, und es machte dem geübten Mörder Spaß, die Jagd und den Kampf eines trainierten Hundes gegen einen schwachen kranken Menschen zu sehen. Er wartete eine Weile darauf, ob ich einen verspäteten Fluchtversuch unternehmen würde, aber ich war entschlossen, mich nicht zu bewegen. Während er noch dastand, ließ er den Hund von der Leine. Der Hund rannte in Kreisen um mich herum und versuchte mich aufzuscheuchen. Er war aufgeregt, darauf dressiert, fliehende Opfer anzugreifen. Es war eine ungewöhnliche Situation für das Tier, mich in dieser Stellung zu finden. Ich versuchte ihn zu beruhigen und sprach mit sanften Worten wie ‚braver Hund, guter Hund, ganz ruhig, Platz‘ usw. auf ihn ein. Er öffnete sein Maul, streckte seine große Zunge heraus, und – Wunder über Wunder, anstatt mich zu beißen, begann er mein Gesicht abzuschlecken. Während er weiter schleckte, legte er sich neben mich ins Gras. Das ermutigte mich, und während ich weiter besänftigende Worte sprach, begann ich ihn zu streicheln.

Das gefiel ihm, und er schleckte auch meine Hände. Inzwischen sah sein Herr, immer noch an der gleichen Stelle, die Entwaffnung seines wilden Gefährten. Er wartete noch ein paar Minuten, bis er herunterkam. Er stand bei meinem Kopf, beugte sich herunter und schnappte das Halsband des Hundes. Er zog den Hund weg und befahl mir, aufzustehen. Er sah mich lange prüfend an und befahl mir, zu meinem Kommando zurückzugehen. Ich drehte mich herum und ging mit wackligen Beinen zum Geräteschuppen hinunter. Ich traute mich nicht, zurückzuschauen und drehte nur ganz wenig den Kopf, um zurückzuschielen, als ich das tiefe schmerzliche Jaulen des Hundes hinter mir hörte. Das Tier, das dem Mitleid seines Besitzers überlassen war, wurde gnadenlos ausgepeitscht. Der Anblick ekelte mich an, und ich ging weiter, bis ich das leidende jaulen des Hundes nicht mehr hörte. Es war mein Glück und das Pech des Tieres, dass der SS-Mann an dieser Stelle in erster Linie Hundedresseur und kein gnadenloser Mörder war. Es war ihm wichtiger, sofort einen schlechten Charakterzug des Tieres zu korrigieren, als sich um einen unwichtigen Juden zu kümmern, dessen Tage auf jeden Fall gezählt waren.“

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Aus: „Möglichkeiten des Erinnerns“Bisingen, 1997 von Christine Glauning

Bisingen – Zeitzeugenberichte – Das Aussehen des Lagers

Das Aussehen des Lagers
Hermann Noell, einer der wenigen deutschen Häftlinge in Bisingen, beschreibt in einem Bericht für die französische Militärregierung in Hechingen 1945/46, wie das KZ Bisingen aussah:
„Das Lager bestand aus einer großen feuchten Wiese; ein gefährlicher Stacheldrahtzaun, der noch mit anderen spitzen Hindernissen gesichert war, umgab den Platz. Hier und da wurde er durch Wachtürme durchbrochen. Auf dem Wachturm und in den Wachhütten standen SS-Leute bewaffnet Posten. Die Häftlinge (…) mussten zunächst in schlechten Zelten auf der feuchten Wiese zubringen; später wurden sie in Baracken oder richtiger in mangelhaften Pferdeställen untergebracht. Für die Insassen waren acht Baracken vorgesehen. (…) In sechs Baracken gab es gemeinsame Schlafstätten; an den Wänden waren Brettergestelle errichtet; auf diesen lagen drei Bretter übereinander; auf jedem Brett mussten drei Häftlinge schlafen, obwohl der Platz nur für einen ausreichte. Anfangs erhielt der Häftling nicht eine Decke, später bekamen drei Mann eine Decke zugeteilt. Um diese Decke entstand oft in der Nacht ein bedauerlicher Kampf und zerstörte manchmal die Kameradschaft: Eine echte Kameradschaft sollte auch nicht aufkommen, sie war von der Lagerleitung nicht gewollt.“

Arbeit im Ölschieferwerk
Hermann Noell „Jeder Häftling, der noch auf den Beinen stehen konnte, musste arbeiten, ob er wollte oder nicht. Der größte Teil der Lagerinsassen hatte die Aufgabe, in einigen Gebieten, die sich in der Nähe des Lagers befanden, Schiefer zu brechen und aus dem Schieferbruch Öl zu gewinnen. Die Arbeit war schwer, sehr schwer und wurde von SS-Leuten und OT-Leuten überwacht. (…) Die Ausgabe der Kräfte stand in keinem Verhältnis zu der Ernährung, folglich musste jeder bald versagen oder in einen Schwächezustand verfallen. Die Absicht der SS-Mannschaft war, möglichst viel Arbeitsleistung, alle Kräfte aus ihren Opfern herauszuholen und sie dann ihrem aufgezwungenen Elend zu überlassen. Wenn einer bei der Arbeit vor Schwäche, Hunger und Elend zusammenbrach, so ließ man ihn nicht etwa liegen, nein, man prügelte auf ihn ein, bis er dem Tode nahe war. (…) Die Urheber waren meistens SS-Leute, zuweilen auch OT-Leute.“ (OT= Organisation Todt)

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Aus: „Möglichkeiten des Erinnerns“ – Bisingen, 1997, von Christine Glauning

Bisingen – Zeitzeugenberichte – Ein ehemaliger Häftling

Von Auschwitz nach Bisingen
Stanislaw Sagan, geboren 1926 in Warschau, wurde 1944 nach dem Scheitern des Warschauer Aufstandes verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Von dort kam er mit dem ersten Häftlingstransport am 24. August 1944 nach Bisingen. Sagan lebt heute in Toronto/Kanada. In seiner Autobiographie „Food Carriers Out!“ beschreibt er seine Ankunft in Bisingen:
„Am vierten Tag unserer Reise hält der Zug plötzlich. Es ist der 24. August. Die Wachmänner springen hinaus und schreien: ‚Raus, raus, schnell alles raus!!!‘ (…) Nachdem ich so schnell wie ich konnte, hinaus gesprungen war, sah ich, dass der Zug inmitten eines Feldes gehalten hatte; keine Gebäude, kein Bahnhof und kein Lager waren in Sicht. Ich stellte auch fest, dass der ganze Zug, der aus mindestens 20 Güterwaggons bestand, von Männer in deutschen Uniformen umringt war; jeder trug ein Gewehr, das wie ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg aussah. (…)
Aber sie sind noch die Herren, zumindest über uns. Sie schreien, obwohl mit ziemlich piepsenden Stimmen, und versuchen uns in Reihen zu ‚je fünf‘ zu bringen. Das unvermeidliche Zählen beginnt. Die Rechenkenntnisse dieser altgedienten Veteranen sind noch begrenzter als die der SS in Auschwitz. Es dauert ungefähr eine Stunde, bis sie fähig sind, auf Tausend zu zählen.

Ausweis Stanislaw Sagan, 1947, Privatbesitz.

Während das alles vor sich geht, habe ich die Möglichkeit, mich umzusehen. Der Tag ist sonnig, und der Duft der Felder ist berauschend. Kein Rauch und keine Asche mehr wie in Auschwitz. Ich bin in viel besserer Stimmung. (…) Als wir alle gezählt waren, setzten wir uns in Bewegung. Wir mussten beinahe eine Stunde laufen, bis wir unseren Bestimmungsort erreichten. Vor uns sehe ich Zelte und zwei Holzbaracken. Ich werde noch erfahren, dass sich in einer die Lagerküche, in der anderen die Unterkunft der SS befindet. Weder Stacheldraht ist zu sehen, noch Wachtürme sind zu sehen, und wenn nicht der Hunger und die Müdigkeit wären, könnte es ein Touristenparadies sein. Das ist es nicht. Wir sind in Bisingen, einem Arbeitskommando des Konzentrationslagers Natzweiler. (…)
Ich kann lange nicht einschlafen. Es scheint, dass das Leben hier nicht menschlicher ist als in Auschwitz. Es war nur ein Funken Hoffnung, den ich hatte, als ich die alten Wachmänner sah und das frische Gras roch. Diese Hoffnung ist nun vergangen. Ich sehe, dass wir es hier mit denselben Deutschen zu tun haben wie in Auschwitz oder Warschau, und dass das Alter der Wachmänner oder die Umgebung nichts mit Menschlichkeit zu tun hat.“

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Aus:  „Möglichkeiten des Erinnerns“ – Bisingen, 1997 / von Christine Glauning (Broschüre vergriffen – nur noch im Internet)