Von Auschwitz nach Bisingen
Stanislaw Sagan, geboren 1926 in Warschau, wurde 1944 nach dem Scheitern des Warschauer Aufstandes verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Von dort kam er mit dem ersten Häftlingstransport am 24. August 1944 nach Bisingen. Sagan lebt heute in Toronto/Kanada. In seiner Autobiographie „Food Carriers Out!“ beschreibt er seine Ankunft in Bisingen:
„Am vierten Tag unserer Reise hält der Zug plötzlich. Es ist der 24. August. Die Wachmänner springen hinaus und schreien: ‚Raus, raus, schnell alles raus!!!‘ (…) Nachdem ich so schnell wie ich konnte, hinaus gesprungen war, sah ich, dass der Zug inmitten eines Feldes gehalten hatte; keine Gebäude, kein Bahnhof und kein Lager waren in Sicht. Ich stellte auch fest, dass der ganze Zug, der aus mindestens 20 Güterwaggons bestand, von Männer in deutschen Uniformen umringt war; jeder trug ein Gewehr, das wie ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg aussah. (…)
Aber sie sind noch die Herren, zumindest über uns. Sie schreien, obwohl mit ziemlich piepsenden Stimmen, und versuchen uns in Reihen zu ‚je fünf‘ zu bringen. Das unvermeidliche Zählen beginnt. Die Rechenkenntnisse dieser altgedienten Veteranen sind noch begrenzter als die der SS in Auschwitz. Es dauert ungefähr eine Stunde, bis sie fähig sind, auf Tausend zu zählen.
Ausweis Stanislaw Sagan, 1947, Privatbesitz.
Während das alles vor sich geht, habe ich die Möglichkeit, mich umzusehen. Der Tag ist sonnig, und der Duft der Felder ist berauschend. Kein Rauch und keine Asche mehr wie in Auschwitz. Ich bin in viel besserer Stimmung. (…) Als wir alle gezählt waren, setzten wir uns in Bewegung. Wir mussten beinahe eine Stunde laufen, bis wir unseren Bestimmungsort erreichten. Vor uns sehe ich Zelte und zwei Holzbaracken. Ich werde noch erfahren, dass sich in einer die Lagerküche, in der anderen die Unterkunft der SS befindet. Weder Stacheldraht ist zu sehen, noch Wachtürme sind zu sehen, und wenn nicht der Hunger und die Müdigkeit wären, könnte es ein Touristenparadies sein. Das ist es nicht. Wir sind in Bisingen, einem Arbeitskommando des Konzentrationslagers Natzweiler. (…)
Ich kann lange nicht einschlafen. Es scheint, dass das Leben hier nicht menschlicher ist als in Auschwitz. Es war nur ein Funken Hoffnung, den ich hatte, als ich die alten Wachmänner sah und das frische Gras roch. Diese Hoffnung ist nun vergangen. Ich sehe, dass wir es hier mit denselben Deutschen zu tun haben wie in Auschwitz oder Warschau, und dass das Alter der Wachmänner oder die Umgebung nichts mit Menschlichkeit zu tun hat.“
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Aus: „Möglichkeiten des Erinnerns“ – Bisingen, 1997 / von Christine Glauning (Broschüre vergriffen – nur noch im Internet)